Gotisches Maßwerk

 

Ausgehend von Frankreich im Spätmittelalter (13. – 15. Jahrhundert) folgte die Epoche der Gotik in ihren verschiedenen nationalen Ausprägungen der Früh-, Hoch- und Spätgotik der Romanik und wurde durch den Bau- und Kunststil der Renaissance abgelöst.

Die gotische Architektur entstand um 1140 in der Île-de-France (Paris und Umgebung) und währte nördlich der Alpen bis in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts. Der gotische Stil ist nur in der Architektur genau abzugrenzen. Herausragende Kunstschöpfung ist die gotische Kathedrale. Sie steht am Anfang einer neuen Gestaltung des Kirchenraums, die durch die erstmalige Vereinigung burgundischer (Spitzbogen) und normannischer Formelemente (Rippengewölbe) in Erscheinung tritt.

Wie schon erwähnt unterscheidet man die Phasen der Früh-, Hoch- und Spätgotik, die in den verschiedenen europäischen Kulturen zu unterschiedlichen Zeitpunkten umgesetzt wurden und sich dann teilweise auch voneinander unabhängig weiterentwickelten. So spricht man in England vom Early English Style, dem Decorated Style und dem Perpendicular Style. In Frankreich unterscheidet man die Frühgotik Gothique primitif (1130–1180), den ausgereiften Gothique classique (1180–1230), dann den verfeinerten Gothique rayonnant, auf den der spätgotische Style flamboyant folgt.

Als erster gotischer Kirchenbau gilt im Allgemeinen die ehemalige Abteikirche von Saint-Denis in Paris. Unter Abt Suger wurde 1137–1140 der Westbau mit Doppelturmfassade errichtet sowie ab 1140 der mit großen Fenstern durchlichtete Umgangschor mit Kapellenkranz, Strebepfeilern und Kreuzrippengewölben, der alle Architekturelemente zu einem einheitlichen Raum verband. Mit dem gleichzeitigen Bau der Kathedrale von Sens (ab 1140) beginnt eine rasche Entwicklung der Frühgotik. Als Beispiele können die Emporenbasiliken der Kathedralen von Senlis (ab 1153), Laon (ab 1155) und Noyon (ab ca. 1157) sowie als ein Höhepunkt Notre Dame de Paris (ab 1163) genannt werden.

Außerhalb von Frankreich wird die gotische Baukunst zuerst in England aufgenommen, die als eigentliche englische Gotik (Early English) mit dem Neubau der Kathedrale von Wells 1180 beginnt. In den Nachbarländern wie im Deutschen Reich blieb die Romanik zunächst der vorherrschende Stil, dennoch zeigen sich auch an hochromanischen Bauten wie z. B. dem Limburger Dom (nach 1175) schon frühgotische Elemente. Nach dem Chor in Lilienfeld (Zisterzienser, ab 1202) und dem Magdeburger Dom (ab 1209), der noch Merkmale des romanisch-gotischen Übergangsstils trägt, folgen erst in der Spätphase der Stauferzeit als erste rein gotisch Bauten die Capella speciosa Klosterneuburg (1222), die Liebfrauenkirche in Trier (ab 1230), die Abteikirche St. Mauritius in Tholey (ab ca. 1230) und die Elisabethkirche in Marburg (ab 1235). Mit dem 1248 begonnen Kölner Dom fand Deutschland den Anschluss an die französische Hochgotik.

Das Maßwerk ist ein typisches Bauornament der Hoch- und Spätgotik, das aus geometrischen Formen, wie z. B. Kreisen und Bögen entwickelt wird. Es kann in Werk- oder Backstein ausgeführt werden und wird im Bogenfeld von Fenstern, aber auch bei Brüstungen und Wandflächen verwendet. Die Erfindung des Maßwerks wird auch als „Geburt der eigentlichen Gotik“ bezeichnet und tritt erstmals um 1215/20 bei der Kathedrale von Reims auf. Neben spitzbogigen Maßwerkfenstern sind auch kreisrunde Rosettenfenster zu finden, die in der Gotik auf Abmessungen bis zur Fassadenbreite gesteigert werden können. In der Spätgotik schließlich wurden auch verschlungenere und kompliziertere Maßwerkformen in vielfältigen Fischblasen- und Flammenmustern (Flamboyant) ausgebildet.

Vom Maßwerk im eigentlichen Sinne spricht man aber nur, wenn die geometrischen Formen aus Steinprofilen zusammengesetzt sind. Die ersten Maßwerkfenster sind in den hochgotischen Chorkapellen der Kathedrale von Reims zu finden. Das Maßwerk wurde beim Bau vermutlich auf einer aus Brettern gezimmerten Ebene, dem Rissboden, mit Zirkel und Schnüren in originaler Größe aufgezeichnet und dann in Stein gemeißelt. Auf dem Rissboden konnte das Fenster zur Probe zusammengebaut und auf Passung geprüft werden. Die Fenster der hoch- und spätgotischen Kirchen sind ohne Maßwerk nicht denkbar, da sie aufgrund ihrer enormen Größe eine zusätzliche Gliederung benötigten. Das spitzbogige Fenster besteht typischerweise aus zwei oder mehreren senkrechten Bahnen, den so genannten Lanzetten, die ebenfalls mit einem Spitzbogen enden und meist bis zur Höhe des Bogenansatzes reichen. Der Bereich darüber im Bogenfeld ist feiner gegliedert mit zusätzlichen geometrischen Figuren. Er wird Couronnement (frz. Bekrönung, eingedeutscht auch: Kronument) genannt. Diese Figuren haben ihre eigene Namen, z. B.: Fischblase, Dreischneuß, Nonnenkopf, Drei- oder Vierpass samt Variationen.